Glycin

Glycin ist die kleinste und einfachste α-Aminosäure und deshalb als einzige proteinogene Aminosäure nicht chiral – es gibt keine „L“ und „D“-Form.
Sie ist nicht essentiell und gehört zur Gruppe der hydrophilen Aminosäuren.

Glycin wird hauptsächlich mit der Nahrung aufgenommen, kann aber vom Organismus auch auf verschiedenen Wegen aus Serin, Glyoxylsäure (durch Transaminierung), Cholin und Threonin hergestellt werden. Umgekehrt kann Glycin unter Aufnahme einer Methylgruppe zur Synthese von Serin dienen, das dann für die Proteinsynthese und als Grundsubstanz des Cholins zur Verfügung steht oder zu Pyruvat deaminiert werden kann. Glycin selbst, als glucogene (glucoplastische) Aminosäure, kann ebenfalls zu Pyruvat abgebaut und so bei Bedarf für die Glucoseneubildung (Gluconeogenese) genutzt werden. Diese Eigenschaft ist wichtig für die Blutzuckerregulierung.

Wegen seiner geringen Größe wird Glycin vorwiegen an „Engstellen“ in Proteine eingebaut, die mechanische Aufgaben erfüllen, z.B. Kollagen (Tripelhelix-Stuktur).
Kollagen besteht zu mehr als 30% aus Glycin und zu ca. 20% aus Prolin und ist das im menschlichen und tierischen Organismus am häufigsten vorkommende Eiweiß. Als wesentlicher Bestandteil des Bindegewebes ist es wichtig für Haare, Zähne, Bänder, Haut, Sehnen, Knorpel, Muskeln und Knochen.

Glycin ist neben GABA (Gamma-Aminobuttersäure) der wichtigsteinhibitorische (hemmende) Neurotransmitter im Zentralnervensystem (Rückenmark und Hirnstamm). Dort befinden sich auch die meisten Glycin freisetzenden Nervenzellen (glycinerge Neurone).
Glycin aktiviert den Glycinrezeptor (Öffnung von ligandengesteuerten Chlorid-Kanälen => inhibitorisches postsynaptisches Potential) und setzt somit die Zellerregbarkeit herab.

Zur Verdeutlichung der Auswirkungen eines Glycin-Mangels: Die beim Wundstarrkrampf typischen Symptome (Streckkrämpfe, Krämpfe der Gesichtsmuskulatur) sind auf die Hemmung der Glycinfreisetzung, die durch das Tetanustoxin hervorgerufen wird, zurückzuführen. Fehlt der inhibitorische Neurotransmitter führt dies zu einer dramatisch erhöhten, lebensbedrohlichen Muskelaktivität.
Auch die Auswirkungen einer Strychninvergiftung sind ähnlich bedingt. Das Alkaloid besetzt die Glycinrezeptoren und macht es somit unmöglich, das Glycin dort seine hemmende Wirkung ausübt.

Zusammen mit L-Glutamin und L-Cystein ist Glycin für die Bildung von Glutathion, einem wichtigen antioxidativen Tripeptid notwendig.
Auch die Kreatinsynthese benötigt Glycin. Durch Transaminierung mit L-Arginin entsteht daraus Guanidinoessigsäure (Glycocyamin) und in weiterer Folge unter Vorhandensein von S-Adenosyl-Methionin Kreatin.
Für den Aufbau von Porphyrin, das dann z.B. mit Eisen zu Häm, dem Farbstoff in roten Blutkörperchen verbunden wird und eine wichtige Rolle für den Sauerstofftransport im Blut spielt, ist die Aminosäure ebenfalls unverzichtbar.
Außerdem wird Glycin für die Konstruktion des Purin-Grundgerüstes benötigt und ist somit für alle sich daraus ergebenden weiteren Funktionen wichtig.
Im Fettstoffwechsel hängt die Konjugation der Gallensäuren vom Vorhandensein von Glycin ab.

Zusätzlich beeinflusst Glycin das Immunsystem, Gedächtnis und Konzentration, das Schmerzempfinden und die Sinneswahrnehmungen positiv.
Erfolgreich eingesetzt wird die Aminosäure z.B. auch bei Arteriosklerose, Gicht (vermindert die Ablagerung von Uratkristallen) und Panikattacken.